Der 14. Dezember ist für viele Bahnfans sowas wie Weihnachten: Fahrplanwechsel. Und diesmal war es besonders, weil ab diesem Tag auch „wir Normalos“ den ICE L ausprobieren konnten. Genau das habe ich gemacht – und in diesem Beitrag bekommst du die komplette Story: meine erste Fahrt, die ersten Defekte, die Entstehungsgeschichte (vom ECx zum ICE L), und am Ende die entscheidende Frage: Ist die massive Kritik wirklich gerechtfertigt – oder ist das viel Lärm um wenig?
Wenn du das Ganze lieber als Trip-Report sehen willst: Auf meinem YouTube-Kanal findest du das Video zur Premierenfahrt – dort siehst du die Szenen, über die ich hier schreibe, noch einmal „in echt“.
Übersicht
1) Vom „ECx“ zum ICE L: Warum dieses Projekt so lange ein Gerücht war
Wer Bahn-News verfolgt, hat den Namen ECx ziemlich sicher schon mal gehört. Und genau aus diesem Projekt ist am Ende der ICE L geworden. Das Spannende daran: Der Zug wurde anfangs gar nicht als „neuer ICE-Hoffnungsträger“ vermarktet, sondern eher als moderner, internationaler EuroCity-/InterCity-Nachfolger – also als neues Wagenmaterial für lange, grenzüberschreitende Linien.
Der offizielle Startpunkt ist schnell erzählt: 5. Februar 2019. Die Deutsche Bahn unterschreibt mit Talgo einen Rahmenvertrag über bis zu 100 Züge und bestellt direkt 23 Einheiten im ersten Abruf. Gesamtvolumen: rund 550 Millionen Euro. Umgerechnet sind das grob ca. 24 Millionen Euro pro Zug – je nach Ausstattung und Betrachtungsweise. Das ist ein Preis, bei dem man merkt: Hier geht’s nicht um ein Nischenprojekt, sondern um ein strategisches Fahrzeug für den Fernverkehr.
Der ursprüngliche Plan war ehrgeizig: Einsatz ab Dezember 2023, vor allem auf der Relation Berlin–Amsterdam. Eine Strecke, die perfekt in das „ECx“-Bild gepasst hätte: international, klassische Wagen-Zeitabläufe, viel Potenzial für modernes, barrierearmes Einsteigen. Nur: Genau dieser Plan ist geplatzt.
Die Deutsche Bahn hat später als zentrale Gründe genannt:
- Lieferschwierigkeiten beim Hersteller
- Verzögerungen in Test- und Zulassungsverfahren
Unterm Strich heißt das: Von der Vertragsunterschrift 2019 bis zum Regelbetrieb Ende 2025 vergehen fast 7 Jahre. Und das ist die eigentliche Grundlage der Kritik: Nicht unbedingt der Zug an sich – sondern die Erwartungshaltung, die durch jahrelanges „bald, bald, bald“ aufgebaut wurde.

2) Was der ICE L technisch ist – und was viele dabei falsch verstehen
Ein wichtiger Punkt, den man sofort klarziehen muss: Der ICE L ist kein Triebzug. Also nicht wie ICE 3, ICE 4 oder andere „aus einem Guss“-Einheiten mit eigenen Antriebsdrehgestellen.
Der ICE L ist ein lokbespannter Zug – vereinfacht gesagt: Lok + Wagenverband.
Die Eckdaten, die du dir für dein Verständnis merken kannst:
- 17 Wagen (inklusive Steuerwagen)
- ca. 256 Meter Länge
- ca. 562 Sitzplätze
- und das „L“ steht für Low Floor / Niederflur
Dieses „Low Floor“ ist nicht nur Marketing. Es ist ein Konzept, das den Fernverkehr spürbar verändern kann: stufenloser Einstieg an 760-mm-Bahnsteigen. Wer regelmäßig mit großem Koffer reist, mit Kinderwagen unterwegs ist oder aus anderen Gründen barrierearm einsteigen möchte, wird genau da den größten Mehrwert sehen.
Das ist auch der Grund, warum ich bei der Frage „Ist das ICE-Niveau?“ vorsichtig bin. Der ICE L ist weniger „Premium-ICE für maximalen Wow-Effekt“ und mehr „modernes Arbeitsgerät, das bestimmte Probleme besser löst als bisher“.
3) Die Premierenfahrt: Was sich sofort gut anfühlt – und was eher nicht
Kommen wir zur Praxis: Wie fährt sich der ICE L wirklich?
Meine ehrliche Kurzfassung: Er ist nicht so schlimm, wie ihn viele vorher geredet haben.
Ja, es gibt ein leichtes Vibrieren – ein anderes Fahrgefühl als bei manchen ICE-Generationen. Aber auf meiner Fahrt war das nicht störend, nicht unangenehm, nicht „Schrottzug“-würdig. Eher so, dass du es wahrnimmst und dann nach ein paar Minuten wieder vergisst.
Wenn du mal einen wahren „Wackelkandidat“ sehen willst, dann lies dir mal meinen Bericht zum Acela an. Oder noch besser, schau dir das Video an.
Auch ein weiterer „Klassiker“ der Kritik – angeblich extrem störende Bremsgeräusche – konnte ich auf meiner Fahrt nicht als Problem bestätigen. Das heißt nicht, dass es nirgendwo existiert. Es heißt nur: In der Praxis kann das sehr vom Einsatz, der Situation, dem Fahrzeugzustand und sogar der Erwartungshaltung abhängen. Und genau deswegen sind Premierenfahrten so spannend: Du bekommst die Realität, nicht die Kommentarspalte.

Sitze & Komfort: Gut – aber nicht „ICE-Spitzenklasse“
Die Sitze sind angenehm, definitiv. Aber wenn ich es in eine Kategorie packen müsste, wäre es nicht „ICE-Flaggschiff-Feeling“, sondern eher: besser als klassischer IC, aber nicht das, was ich mir unter „neues Premiumprodukt“ vorstelle.
Ein Detail, das ich bei einem neuen Zug wirklich erwartet hätte: besser verstellbare Kopfstützen/Kissen. Gerade im Fernverkehr sind das Kleinigkeiten, die aus „okay“ ein „richtig gut“ machen. Der ICE L ist komfortabel – aber er wirkt eher pragmatisch als luxuriös.
Geräuschkulisse: Unauffällig angenehm
Was ich positiv fand: Die allgemeinen Fahrgeräusche waren angenehm, nichts, was mich genervt hätte. Das ist wichtig, weil ein Zug im Alltag nicht nur „einmal für Bahnnerds“ funktionieren muss, sondern jeden Tag für Menschen, die arbeiten, schlafen, telefonieren, lesen.
4) Die ersten Defekte: WC-Klassiker am ersten Tag
Und ja – es wäre keine echte Premierenfahrt ohne den ersten Defekt.
Bei mir war es ausgerechnet das Thema, das man im Alltag am wenigsten diskutieren will, aber das jeden Zug gnadenlos entlarvt: das WC. Einmal auf Toilette, Spülung gedrückt, nichts passiert – kurz danach war die Toilette gesperrt. Seife/Spender ebenfalls: eher so „Heute nicht“.
Ist das schön? Nein.
Ist es ein Zeichen, dass „Talgo Schrott“ ist? Ebenfalls nein.
Toiletten sind in modernen Zügen eine Art „Schnittstelle des Grauens“: Sensoren, Wasser, Pumpen, Verriegelungen, Softwarelogik, Zustandsüberwachung, Betriebsdruck – sehr viel kann sehr schnell sehr doof werden. Und bei brandneuen Fahrzeugen sind solche Kinderkrankheiten leider häufiger, als man es sich wünschen würde.
Für mich zählt hier eher die Frage: Wie schnell stabilisiert sich das im Betrieb? Ein einzelnes defektes WC am ersten Tag ist ärgerlich – mehrere über Wochen wären ein echtes Problem.
5) Die tschechische Lok am Premierentag: Warum das passiert (und was das über den ICE L sagt)
Einer der kuriosesten Punkte – und gleichzeitig einer, der perfekt zur ICE-L-Story passt – war die Lok vorne dran.
Denn eigentlich sollte der ICE L mit einer Talgo-eigenen Lok laufen, bei der DB als Baureihe 105 vorgesehen. Nur: Zum Start war diese Lok noch nicht so verfügbar/zugelassen, dass sie den Betrieb tragen konnte. Ergebnis: Die DB musste kurzfristig auf Siemens Vectron (Baureihe 193) ausweichen – teils als Übergangslösung.
Und wenn du dann auf einen Fahrzeugpool zugreifst, kann es eben passieren, dass du am Ende eine Lok bekommst, die zwar technisch passt, aber optisch nicht das „perfekte Premierenfoto“ liefert – in meinem Fall eben eine Vectron im ČD-Look.
Das ist für Social Media und Bahnfan-Herzen ein bisschen schade. Für den Betrieb ist es logisch. Und es zeigt: Der ICE L startet nicht als „fertiges Komplettpaket“, sondern als Zug, der in Stufen hochgefahren wird.
6) Warum der ICE L (noch) nicht in die Niederlande fährt
Das war ja eigentlich die große Bühne für den Zug: Berlin–Amsterdam. Und trotzdem startet der ICE L erstmal in Deutschland. Dahinter stecken zwei Punkte, die man auseinanderhalten muss:
A) Zulassung ist nicht nur ein Haken in einem Formular
Internationaler Einsatz heißt: Du brauchst die passenden Zulassungen und Nachweise – und diese Prozesse können je nach Land, Nachweislage und Systemkomplexität dauern. Das ist nicht spektakulär, aber real.
B) Infrastruktur-Thema: Achslast und „weicher Untergrund“
Der spannendere Teil ist: Selbst wenn ein Zug prinzipiell zugelassen ist, kann es sein, dass er nicht überall ohne Einschränkungen fahren darf.
In den Niederlanden gibt es Abschnitte, bei denen Trasse/Untergrund eine Rolle spielen. Das ist kein Stammtisch-Argument, sondern ein klassisches Infrastrukturthema: Wo der Untergrund empfindlicher ist, sind bestimmte Achslasten kritischer. Und dann wird der Betrieb oft über Einschränkungen gelöst – zum Beispiel geringere Geschwindigkeit oder begrenzte Streckenfreigaben.
Übersetzt: Der ICE L war mal als „Holland-Heilsbringer“ im Gespräch – aber ausgerechnet dort können Gewicht und Netzrestriktionen eine echte Hürde sein.

7) Warum der Steuerwagen im Schubbetrieb noch nicht freigegeben ist
Der ICE L ist als Wendezug gedacht. In der Idealwelt fährt er so:
- in Richtung A: Lok zieht, Steuerwagen hinten
- zurück Richtung B: Steuerwagen vorne, Lok schiebt (Schubbetrieb)
Nur: Zum Start darf der Steuerwagen noch nicht als führendes Fahrzeug im Schubbetrieb eingesetzt werden. Er läuft zwar im Verband, aber nicht in der Rolle, für die er eigentlich gebaut wurde.
Warum dauert das? Auch wenn Hersteller und Betreiber das öffentlich selten bis ins letzte Detail erklären, ist die Grundlogik aus Zulassungssicht ziemlich klar:
- Steuerwagen voraus ist sicherheitskritisch, weil er die Führung übernimmt.
- Dafür müssen Leittechnik, Kommunikation zur Lok, Bremsnachweise, Zugsicherungssysteme (je nach Streckenprofil), und das komplette Sicherheitskonzept als Gesamtsystem abgenommen sein.
- Wenn diese Freigabe fehlt, bleibt im Betrieb nur: Lok immer vorn, und am Endbahnhof muss man sie umsetzen – betrieblich machbar, aber eben nicht die Endausbaustufe.
Das wirkt auf den ersten Blick wie ein „Fail“, ist in Wirklichkeit aber oft ein klassisches Muster bei Neueinführungen: Erst fährt man stabil in einer konservativen Betriebsart, dann kommt die volle Funktionalität Schritt für Schritt.
8) Strecken & ICE-Nummern: Wo du den ICE L aktuell erleben kannst
Kurz nach dem Fahrplanwechsel ist der Einsatz noch überschaubar, aber ziemlich klar:
- ICE 1548: morgens Berlin → Köln (über Hannover und NRW)
- ICE 1055: nachmittags Köln → Berlin (mit leicht anderem Laufweg, u. a. über Münster/Osnabrück)
Und dann wird’s 2026 spannend, weil der ICE L deutlich breiter ausgerollt werden soll:
- ab Mai 2026: Berlin ↔ Sylt mit ICE 2074 / ICE 2075
- ab Juli 2026: weitere Sylt-Verbindungen
- ICE 2310 / ICE 2311: Köln ↔ Sylt
- ICE 2374 / ICE 2375: Frankfurt ↔ Sylt
- außerdem Richtung Süden:
- ICE 2012 / ICE 2013: Dortmund ↔ Ulm ↔ Oberstdorf
Für mich zeigt das: Der ICE L ist kein „einmaliges Prestigeprojekt“, sondern soll in sehr unterschiedliche Rollen reinwachsen – von touristischen Linien bis zu klassischen Fernverkehrsachsen.

9) Ankunft & Realitätsschock: Pünktlich – während alles um uns herum wackelt
Wir kamen in Köln Hbf pünktlich an. Und das war fast schon ironisch, weil der Blick in den DB Navigator rundherum oft zeigt: Viele andere Züge kämpfen mit Ausfällen oder Verspätungen.
Ob es am „Premieren-Spotlight“ lag, an den vielen Kameras an Bord oder einfach daran, dass man am ersten Tag besonders vorsichtig fährt – kann man nur mutmaßen. Aber es war ein schöner Nebeneffekt: Ein neuer Zugtyp startet nicht mit dem Klassiker „gleich mal +40“.
10) Medien, Bahnnerds und Paul Lucas: Diese Fahrt war mehr Event als Alltag
Was die Atmosphäre besonders gemacht hat, war das Publikum: Viele Trainspotter, Fotografen, Leute mit Gimbal-Setups – und sogar ein großer Name der Trip-Report-Szene war dabei: Paul Lucas (wie ich am Kölner Bahnhof mitbekommen habe).
Das klingt nach Nebensache, ist aber wichtig, wenn man den „Hype“ um den ICE L verstehen will: Diese Premierenfahrt war nicht einfach ein Zug. Sie war ein Symbol für Jahre an Diskussionen, Erwartungen, Memes und Kommentarschlachten.
Und genau deswegen war mir die Bewertung so wichtig: Was bleibt übrig, wenn man das Drama mal ausblendet und einfach Zug fährt?
11) Mein Fazit: Kein ICE-Wunder – aber auch kein Talgo-Desaster
Ist der ICE L ein „ICE-würdiges Produkt“ im Sinne von „neue Premium-Referenz“? Für mich: eher nein. Dafür fehlen mir ein paar Komfort-Details und dieses Gefühl von „Wow, das ist jetzt die nächste Stufe“.
Ist er trotzdem ein guter Zug? Für mich: ja.
Er ist deutlich besser als ein klassischer IC, er fährt angenehm, die Kritik wirkt in großen Teilen übertrieben – und viele der Probleme, die man aktuell sieht, sind eher Einführungs- und Zulassungsthemen als ein Beweis dafür, dass das Grundkonzept schlecht ist.
Wenn du mich nach einem Urteil in einem Satz fragst:
Gelungener Start – mit klaren Einschränkungen, die jetzt schnell weg müssen.
Wenn dir der Beitrag gefallen hat, schau dir gerne das YouTube-Video zur Fahrt an (da siehst du die Szenen und Details nochmal viel direkter). Und schreib mir unbedingt in die Kommentare: Bist du schon ICE L gefahren – und war deine Erfahrung ähnlich oder komplett anders?

Quellen (mit Links)
- Deutsche Bahn (Presse): „Der neue ICE L feiert Deutschland-Premiere“
https://www.deutschebahn.com/de/presse/pressestart_zentrales_uebersicht/Der-neue-ICE-L-feiert-Deutschland-Premiere–13581306 - Deutsche Bahn (Faktenblatt PDF): „Faktenblatt ICE L“ (u. a. Länge, Sitzplätze, Wagenzahl, Niederflur)
https://www.deutschebahn.com/resource/blob/13581410/5526333050bdad745551244fd5d26f14/Faktenblatt-ICE-L-data.pdf - Deutsche Bahn (Hintergrundseite): „Der neue Fernverkehrszug ECx“
https://www.deutschebahn.com/de/talgo_ecx-6876314 - Talgo (Pressemitteilung, 05.02.2019): Rahmenvertrag + erster Abruf 23 Züge / ~550 Mio. €
https://www.talgo.de/deutschen-bahn-rahmenvertrag/ - heise online (News, 11.08.2025): „ICE L erhält Betriebszulassung – Start im Dezember“
https://www.heise.de/news/ICE-L-erhaelt-Betriebszulassung-Start-im-Dezember-10517517.html - heise online (Hintergrund, 18.10.2025): „Der neue ICE L: Ein ganz besonderer Zug“ (u. a. BR 105/Steuerwagen/NL-Themen)
https://www.heise.de/hintergrund/Der-neue-ICE-L-Ein-ganz-besonderer-Zug-10778290.html - Railvolution (19.10.2025): „Public presentation of the ICE L before the start of operation“ (u. a. „pulled mode“, Steuerwagen noch nicht für push mode)
https://www.railvolution.net/news/public-presentation-of-the-ice-l-before-the-start-of-operation - Trains for Europe (15.10.2021): NL-Infrastruktur / Achslast / 100-km/h-Thematik bei schweren Loks
https://trainsforeurope.eu/the-next-problem-for-night-trains-in-netherlands-the-locomotives-are-too-heavy-or-the-track-too-unstable/